„An Luther Geburtstag brannten die Synagogen“ – Sibylle Biermann-Rau provozierte mit dem Titel ihres Vortrags bewusst und wollte damit zeigen, wie brisant dieses Thema und wie notwendig seine Erörterung ist. Dass sie damit das Richtige getroffen hat zeigte sich schon daran, dass der Saal in der ehemaligen Rexinger Synagoge die zahlreichen Zuhörer kaum fasste.
Heinz Högerle stellte die Referentin vor und führte die Zuhörer in das Thema ein. Im heutigen Horber Stadtgebiet gab es sechs jüdische Gemeinden, und als vor 75 Jahren in der Nacht vom 9. auf den 10. November, der so genannten Reichspogromnacht, die Synagogen brannten, waren auch die Synagogen in Mühringen und Rexingen dabei. Heinz Högerle berichtete, dass bei den Reichstagswahlen von 1933 die NSDAP in den evangelischen Ortschaften um Horb wesentlich höhere Stimmanteile verbuchen konnte als in den katholischen. Mit seiner Frage: „Wie war das möglich, gibt es etwa einen Zusammenhang zwischen Martin Luther und dem Judenhass im Dritten Reich?“ war man schon mitten im Thema.
Pfarrerin Biermann-Rau griff in ihrem Vortrag die Frage auf, inwieweit ein Zusammenhang zwischen Luthers Schriften und dem Synagogenbrand von 1938 besteht, und ging offen und schonungslos mit der Rolle der evangelischen Kirche während des Dritten Reiches um. Ihre Ausführungen belegte sie wissenschaftlich akribisch mit zahlreichen Belegen und Zitaten aus zeitgenössischen Quellen, die die Zuhörer teils erschütterten.
Martin Luther, der die Juden anfangs noch als potentielle Christen betrachtet, will sie für die Kirche der Reformation gewinnen. Doch seit 1523 haben sich seine Ansichten zum Umgang mit den Juden stark gewandelt und sein Ton wird schärfer. Dieser Wandel lässt sich nicht alleine aus den Zeitumständen uns einer enttäuschten Missionserwartung erklären. Luther fühlt die Kirche durch das Judentum bedroht.
In einer späteren und äußerst judenfeindlichen Schrift aus dem Jahr 1543 „Von den Juden und ihren Lügen“ verteufelt er das Judentum und will es theologisch entkräften. Er schreibt, man solle „ihre Synagogen niederbrennen, ihre Häuser zerstören und sie wie Zigeuner in Ställen und Scheunen wohnen lassen, ihnen ihre Gebetbücher wegnehmen, ihren Rabbinern das Lehren bei Androhung der Todesstrafe verbieten, ihren Händlern das freien Geleit und Wegerecht entziehen, ihnen das Wuchern verbieten und all ihr Bargeld und ihren Schmuck einziehen, den jungen kräftigen Juden Werkzeuge für körperliche Arbeit geben und sie ihr Brot verdienen lassen.“
Nun will er die Juden nicht mehr bekehren, da dies so unmöglich sei „wie beim Teufel“. Dabei bedient er sich der seit dem Mittelalter gängigen Klischees des Judenhasses: Die Juden seinen blutrünstig, rachsüchtig, das geldgierigste Volk, leibhaftige Teufel und verstockt. „Was sollen wir Christen nun tun mit diesem verdammten, verworfenen Volk der Juden?“ Dabei blieb Luthers Judenfeindschaft nicht nur auf den Glauben bezogen.
Die Juden waren von Luther enttäuscht. Sie verstanden es nicht, dass ein solch gebildeter Mann sich so äußert. Der Schweizer Reformator Zwingli nennt Luthers Schriften „sehr schmutzig geschrieben“. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts keimten, trotz der Gleichstellung der Juden, Antisemitismus und Judenfeindschaft erneut auf. Die Juden wurden als Christusmörder und Hostienschänder diffamiert. Dazu kam der Neid. Diese Anschuldigungen vermischten sich mit politischen Motiven und mit Fremdenhass. Die damals einsetzende Heroisierung Luthers fand im Dritten Reich ihre Fortsetzung. Luthers Schriften wurden als Rechtfertigung des Judenhasses missbraucht: angefangen von der gesellschaftlichen Ausgrenzung der Juden 1933, als man ihre Geschäft zerstörte und alle Nichtarier aus öffentlichem Dienst und Beamtentum ausschloss. Die Kirche schwieg zu dieser Ausgrenzung und sah es als Sache des Staates an. Pfarrämter, die die Ariernachweise erbringen mussten, wurden zu Sippenforschungsanstalten. Doch es gab auch Opposition und Widerstand in der evangelischen Kirche, doch das wurde in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen.
Als sich mit den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 die Lage zusehends verschärfte, hätte man im September desselben Jahres von der Synode in Berlin eine eindeutige Stellungnahme erwartet. Jetzt wäre die Stunde gewesen, sich zu äußern, aber ein kritisches Wort blieb aus. Man konnte bereits die „Endlösung“ ahnen, aber die Kirche tat nichts. Dieses Stillhalten und Nichtstun führte zu den brennenden Synagogen der Pogromnacht, deren Datum, so Pfarrerin Biermann-Rau, zufällig auf den Geburtstag Martin Luthers fiel.
Die evangelische Kirche schwieg auch dazu. Der württembergische Bischof Wurm war zwar erschüttert und fühlte sich in seinen sittlichen Empfindungen verletzt, aber er bestritt dem Staat nicht das Recht, gegen das Judentum vorzugehen. Das Obrigkeitsdenken wirkte sich wie lähmend auf die evangelische Kirche aus. Kritische Stimmen und Reaktionen aus der evangelischen Kirche, die es auch gab, wurden wieder nicht gehört.
Die in zynischer Konsequenz folgende Judenvernichtung konnte nicht mehr aufgehalten werden. Und obwohl sich die Nazis auf Luthers Schriften beriefen, lässt sich die „Endlösung“ damit nicht rechtfertigen.
Nach 1945 ging das Schweigen der Kirche weiter, aber es wurden endlich auch andere Töne angeschlagen. Stimmen wurden lauter, die eine Mitschuld an den Freveln erkannten, die an den Juden begangen worden waren. Nach 1950 formierten sich allmählich Gruppen, um die Judenfeindschaft zu beenden. Schließlich bekannte sich 1980 die Rheinische Synode betroffen zur Mitverantwortung.
Heute distanziert man sich von der Judenfeindschaft Luthers und trennt den Theologen Luther vom Judenfeind Luther uns seinen judenfeindlichen Schriften und Äußerungen. Allerdings sthet eine endgültige Stellungnahme der Evangelischen Kirche Deutschlands aus, denn auch heut noch ist die Stellung der EKD zu Luthers Judenfeindlichkeit zwiespältig. Spätestens bis 2017, der 500. Wiederkehr von Luthers Thesenanschlag, sei Gelegenheit das Verhältnis der evangelischen Kirche zu den Juden klar zu stellen.
Im Anschluss an den Vortrag von Sibylle Biermann-Rau ergab sich eine rege Gesprächsrunde, bei der einzelne Aspekte vertieft werden konnten.